Wenn Eis schmiltzt

„Coraline?“, ich schluchzte. „Coraline sag doch was!“, ich umarmte sie, doch sie rührte sich nicht. „Nein!“, schrie ich. Ihre Haut war eiskalt. Ihre sanften braunen Augen starrten ins Nichts. Ihre langen dunkelroten Locken umgaben sie wie ein Schleier, der sich mit dem Blut in ihrer Brust vermischte. „Nicht du“, meine Stimme erstickte. Mein Gesicht war Tränen überströmt. Meine Eltern und die Leute von der Polizei wollten mich von ihr weg bringen, doch ich umklammerte sie fest. „Tun sie doch was!“, schrie ich an. „Retten sie sie! Das ist doch ihre Aufgabe!“ Die Männer in den roten Anzügen sahen mich traurig an, doch ich konnte sie nicht richtig sehen, meine Augen waren zu voll mit Tränen. Ich kniete mich hin und stützte meinen Kopf in meine Hände. Ich weinte mir die Augen aus. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter. „Es nützt nichts zu weinen, es wird sie nicht wieder zum Leben erwecken“, meinte eine freundliche Stimme sanft. Da wurde alles schwarz und ich kippte zur Seite. Mein Kopf schlug hart auf dem kalten Asphalt auf. Doch ich spürte es nicht und um ehrlich zu sein, war es mir auch egal. Alles was spürte war ein unerträglicher Schmerz in meiner Brust. Das war der Moment in der mein Herz zersprang und sich in zwei, schwarze, kalte Klumpen verwandelte. Coraline war tot.

„Ja Mum“, ich verdrehte die Augen und lief aus dem Haus, ohne mich zu verabschieden. Ich entsperrte mein Rad und warf mich in seinen Sattel. Ich trat fest in die Pedalen und raste die Brightstreet hinunter. Dann bog ich ab in den park und fuhr den holprigen Weg hinüber. „Alter Drahtesel!“, schimpfte ich, als es mich so ordentlich durchrüttelte. Endlich kam meine Schule in Sicht. Die Georg-Jean- Highschool. Ich parkte mein Rad bei den Radständern und schloss es ab. Dann rannte ich hinunter zu den Spinden. Mein Spind war etwas abseits der anderen aus meiner Klasse. Ich schlüpfte hastig aus meinen Schuhen und warf sie in meinen Spind. Da schupste mich so ein Großer. Ich funkelte ihn wütend an, verbiss mir aber ein Kommentar. Als ich alle meine Schulsachen herausgesucht hatte, ging ich hinauf in mein Klassenzimmer. Als ich es betrat, sahen sich einige um, doch niemand begrüßte mich. Missmutig ließ ich mich auf meinem Platz nieder und holte meine Schulsachen heraus. Dann zog ich ein Buch aus meiner Tasche. Bücher waren die einzigen Freunde, die ich hatte. Ich begann zu lesen. Lesen war so ungefähr das, was ich zum Leben brauchte. Ohne sie, würde ich vermutlich den Depressionen verfallen. „Was liest du da?“, fragte mich plötzlich eine helle Stimme. „Ähm, Horseland“, antwortete ich und sah auf. Vor mir stand Emily. Sie hatte ihre blonden Haare zu zwei langen Schwänzchen zusammen gebunden. „Zeig mal!“, stürmisch riss sie mir das Buch aus der Hand und begutachtete interessiert den Umschlag. Verärgert kräuselte ich die Lippen. „Und worum geht’s da?“, fragte sie und lächelte mich fröhlich an. „Um Pferde“, antwortete ich höchst intelligent. „Ach, wirklich“, spielerisch verdrehte sie die Augen. „Schon klar, aber über was genau?“. „Also, um…“, weiter kam ich nicht, denn ich wurde von der Schulglocke unterbrochen. „Emi! Komm mal her, ich muss dir was zeigen“, rief Carly, die neben ihr saß von hinten. „Ich komm gleich“, rief sie zurück, dann wandte sie sich wieder zu mir. „Erzähl’s mir später, okay?“ Dann drehte sie sich um und lief eilig zurück zu ihrem Platz. Ich schaute ihr kurz hinterher. Eigenartiges Mädchen…, dachte ich mir.

Wir hatten heute nur fünf Stunden und so verging die Zeit ziemlich schnell. Ich saß wie gewöhnlich auf meinem Platz neben der Wand und neben einem Mädchen, das eigentlich nur da saß, weil sie mit zwei anderen Befreundet war und sie sonst nicht neben einander hätten sitzen können. Als es läutete packte ich meine Sachen und verließ das Klassenzimmer möglichst schnell. „Hey, warum hast du’s so eilig?“, rief mir Emily zu und rannte mir hinterher. Ihre blonden Zöpfchen wirbelten durch den Wind und sie sah aus, wie ein kleiner Schmetterling, der fröhlich über eine Blumenwiese flog. Ich blieb stehen und wartete auf sie. Als sie bei mir angekommen war keuchte sie. Ich bemerkte, dass sie ein ganzes Stück kleiner war als ich. „Du wolltest mir von diesem Buch erzählen“, meinte sie. Ich musterte sie. Sie trug einen süßen Minirock und eine weiße Bluse. Würde man sie nicht kennen, und würde man nicht ihr freches Grinsen sehen, würde man sie für eine ziemliche Streberin halten. Da fiel mir wieder ein, dass sie ja auch gar nicht so schlecht in der Schule war, na ja, eigentlich ziemlich gut. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich war nicht besonders gut. Ich war zu faul um zu lernen, ich hatte keine Lust in der Stunde aufzupassen und so eine schlechte Mitarbeit und es war mir eigentlich auch egal, wenn ich mal eine Hausübung vergaß. Dann sah ich ihr in die Augen… und erstarrte. Ich sah in Augen, die ich nur allzu gut kannte. In sanfte, dunkelbraune, freundliche große Augen. „Ähm… Noch da?“, sie wedelte wie verrückt mit der Hand vor meinen Augen herum. „Ich… ich hab einen Zahnarzttermin“, stotterte ich, drehte mich um und rannte die Stiegen hinunter. Ich spürte ihren stirngerunzelten Blick, der auf meiner Haut brannte, doch ich blieb nicht stehen. Ich lief einfach in die Garderobe, zog mich an und für auf meinem Rad, so schnell ich konnte nach hause. Dort ließ ich mich auf mein Bett fallen und weinte.